Praxisfrage

Wir betreiben Blockheizkraftwerke (BHKW) eines chinesischen Herstellers an unserem Niederspannungsnetz. Die Aufdrucke auf den Leitungen der Einzeladern der Schaltschrankverdrahtung, aber auch die mehradrigen Leitungen zu den Feldgeräten sind ausschließlich mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Ist die Verwendung solcher Leitungen in Europa bzw. in Deutschland zulässig? Zumindest ist es somit nicht erkennbar, ob es sich um harmonisierte Leitungen handelt.

Normative Grundlagen

Zur Beantwortung dieser Praxisanfrage muss die grundsätzliche Vorgehensweise bei der Bereitstellung von elektrischen Betriebsmitteln im Rahmen der Niederspannungsrichtlinie (Richtlinie 2014/35/EU) bzw. der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG betrachtet werden. Zur genauen Abgrenzung, d.h. welche EU-Richtlinie formal zur Anwendung kommt, ist hier von entscheidender Bedeutung, mit welchem Bezug auf welche Richtlinie der Hersteller bzw. Lieferant des Blockheizkraftwerkes (BHKWs) seine (hoffentlich vorhandene) Konformitätserklärung ausgestellt hat. Da formal nur eine der Richtlinien

  • Niederspannungsrichtlinie (Richtlinie 2014/35/EU)
  • oder Maschinenrichtlinie 2006/42/EG

zur Anwendung kommen kann, muss dies – wie vorab beschrieben – aus formalen Gründen geklärt werden.

Grundlegende Betrachtung des Gesamtprojekts »Blockheizkraftwerk«

Bild: Blaue Aderleitungen, die nicht unter einer nach der Niederspannungsrichtlinie gelisteten Norm hergestellt wurden.

Vorbehaltlich anderer privatrechtlicher Regelungen (sprich: Kaufvertrag) schuldet der Hersteller-Lieferant des Blockheizkraftwerkes eine mit der Niederspannungsrichtlinie bzw. der Maschinenrichtlinie konforme Umsetzung bzw. Ausführung des Blockheizkraftwerkes. Hierfür kann sich der Hersteller für die Betrachtung der einzelnen Sicherheitsaspekte innerhalb der Umsetzung des Gesamtprojektes »Blockheizkraftwerk« in der Europäischen Union harmonisierter Normen – also unter der Niederspannungsrichtlinie oder Maschinenrichtlinie gelistet Normen – bedienen und deren Anforderungen umsetzen. Er kann aber genauso die grundlegenden Sicherheitsanforderungen der Niederspannungsrichtlinie oder Maschinenrichtlinie ohne die Beachtung harmonisierter Normen – unter der entsprechenden Richtlinie gelisteten Normen – umsetzen. Hierfür ist er dann aber im Rahmen des Konformitätserklärungsprozesses (CE-­Prozess) bezüglich der gleichwertigen Umsetzung, nachweispflichtig.

Es ist somit nicht unabdingbar notwendig, alle entsprechenden harmonisierte Normen (unter der entsprechenden Richtlinie gelistete Normen) umzusetzen. Somit wäre es auch möglich, nicht harmonisierte Leitungen innerhalb einer Schaltschrankverdrahtung des Blockheizkraftwerkes einzusetzen. Voraussetzung dafür wäre, dass unter diesen Bedingungen der Nachweis der Gleichwertigkeit mit den Schutzanforderungen der entsprechenden Richtlinie vom Hersteller bzw. Lieferanten geführt werden kann.

Harmonisierte Leitungen dienen der Vereinfachung

Um sich dieses aufwändige Verfahren zu ersparen bzw. auch keine Auseinandersetzung mit dem Endkunden zu provozieren, ist der überwiegende Teil aller Produkthersteller im Bereich der Niederspannungsrichtlinie schon seit vielen Jahren dazu übergegangen, die harmonisierten Normen anzuwenden bzw. auch entsprechende Produkte – z. B. harmonisierte Leitungen – zu verwenden. Da im Anfragefall offensichtlich nicht – wie vorab beschrieben – nach harmonisierten Normen ausgeführte Aderleitungen verwendet wurden, muss ein entsprechenden Bewertungs-Prozess angestoßen werden.

Hinweise zum Bild

Es müssen in der Beurteilung – da diese unstrittig sicherheitsrelevant ist – selbstverständlich die vorhandenen Leiterfarben bzw. die Leiterkennzeichnungen im Abgleich mit den zutreffenden Normen z. B. DIN EN 60204-1 bewertet werden. Unabhängig von der Qualität der verwendeten Aderleitungen ist hier selbstverständlich eine Abweichung wegen der Verwendung der blauen Aderleitung als Außenleiter vorhanden.

Weiteres Vorgehen

Somit müssen der Anfrager bzw. der entsprechende Auftraggeber nun vom Hersteller bzw. Lieferanten den Nachweis der Gleichwertigkeit mit den Schutzanforderungen der zutreffenden Richtlinie für alle in dieser Anlage vorhandenen mutmaßlichen Abweichungen einfordern, die in Bezug auf die unter der entsprechenden Richtlinie gelisteten Normen bestehen. Dieser Nachweis in Form einer Einzelfallbetrachtung kann z. B. über den Vergleich der Produkt-Eigenschaften erfolgen. Im Rahmen dieser Problemstellung wäre dies der Vergleich der technischen Eigenschaften der verwendeten Aderleitungen mit den technischen Eigenschaften einer harmonisierten Aderleitung.

Da dieser Prozess in der Regel gerade bei Herstellern außerhalb Europa sehr mühsam sein kann, empfehle ich Ihnen, die komplette Umsetzung des Schaltschrankes sehr genau auf mögliche Abweichungen bezüglich der Schutzanforderungen der zutreffenden Normen – z. B. DIN EN 60204-1 usw. – untersuchen zu lassen. Danach sollten Sie einmalig alle vermutlichen Abweichungen bezüglich der Schutzanforderungen der zutreffenden Richtlinie bzw. den hier einschlägigen Normen mit dem Hersteller bzw. dem Lieferanten klären.

Fazit

Der Anfrager bzw. die im Unternehmen zuständige Stelle sollte die in der Fragestellung offensichtlich vorhandenen Abweichungen bezüglich der Leiterkennzeichnung von den Schutzanforderungen der entsprechenden Niederspannungsrichtlinie (Richtlinie 2014/35/EU) oder der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG beim Hersteller oder Lieferanten reklamieren. Bezüglich sämtlicher verwendeter Aderleitungen im Schaltschrank des Blockheizkraftwerkes sollten Sie eine Bewertung der Gleichwertigkeit zu »harmonisierten Aderleitungen« einfordern. Vorab empfehle ich Ihnen aber eine umfassende Überprüfung des Schaltschrankes des Blockheizkraftwerkes, um auch wirklich alle Abweichungen zu erfassen.
Für zukünftige Projekte sollte im Vorfeld vertraglich die genaue Ausführung und die zu beachteten Normen im Rahmen eines Lastenheftes zwischen den Vertragspartnern klar und deutlich vereinbart werden. Nach meinen Erfahrungen lassen sich so derartige Problemstellungen viel leichter klären bzw. vorab gänzlich verhindern.

Autor

Frank Ziegler, Elektrotechniker-Meister; Öffentliche bestellter und vereidigter Sachverständiger für das Elektrotechniker Handwerk der HWK Stuttgart. VDS Sachverständiger für die Prüfung elektrischer Anlagen nach VDS 3602 und VDS Thermografiesachverständiger

Quelle und Bildquelle: www.elektro.net