Bild 1: In der Praxis werden häufig Anforderungen des Überspannungsschutzes mit der Forderung nach Blitzschutz gemäß VDE 0185 in einen Topf geworfen

In der Praxis werden häufig Anforderungen des Überspannungsschutzes mit der Forderung nach Blitzschutz gemäß VDE 0185 in einen Topf geworfen. In diesem Bericht sollen die Unterschiede dieser Forderungen aufgezeigt werden (Bild 1).

Spätestens seit dem Gültigkeitsbeginn der VDE-AR-N 4100:2019-04 »Technische Regeln für den Anschluss von Kundenanlagen an das Niederspannungsnetz und deren Betrieb (TAR Niederspannung)« [1] im April 2019 und dem Erscheinen der DIN 18015-1:2020-05 »Elektrische Anlagen in Wohngebäuden – Teil 1: Planungsgrundlagen« [2] im Mai 2020 ist klar, dass auf Grundlage der DIN VDE 0100-443 [3] und der DIN VDE 0100-534 [4] in Gebäuden mit elektrischen Anlagen Überspannungsschutz errichtet werden muss.

 

Forderungen nach Überspannungsschutz gemäß DIN VDE 0100

Ziel des Überspannungsschutzes ist es, die elektrische Anlage beim Auftreten transienter Überspannungen infolge atmosphärischer Einflüsse, die über das Stromversorgungsnetz übertragen werden können, zu schützen. Zu diesen Einflüssen zählen zum Beispiel Wolke-Wolke-Entladungen (induktive Einkopplungen in das Stromversorgungsnetz) sowie direkte Einschläge in das Stromversorgungsnetz. Zudem soll der Überspannungsschutz die elektrische Anlage bei transienten Überspannungen infolge von Schaltvorgängen schützen. Durch den Überspannungsschutz nach VDE 0100 ist nicht der Schutz transienter Überspannungen bei direkten Einschlägen in oder neben die bauliche Anlage gegeben. Zudem bietet der Überspannungsschutz keinen Schutz der baulichen Anlage bei direkten Einschlägen in die bauliche Anlage.

Die DIN VDE 0100-443 [3] beschreibt die Anforderungen für den Schutz der elektrischen Anlage. Die Auswahl und Errichtung von Überspannungs-Schutzeinrichtungen (SPDs) muss entsprechend DIN VDE 0100-534 [4] erfolgen. Ist die Errichtung von Überspannungs-Schutzeinrichtungen in der Niederspannungsanlage erforderlich, dann wird die Errichtung von zusätzlichen Überspannungs-Schutzeinrichtungen auch für andere Systeme empfohlen – z. B. bei Telekommunikationsleitungen.

In der DIN VDE 0100-443 [3] wird gefordert, dass der Schutz bei transienten Überspannungen vorgesehen werden muss, wenn die Folgen der Überspannungen Auswirkungen haben auf:

  • Menschenleben, wie z. B. für Anlagen für Sicherheitszwecke, medizinische genutzte Bereiche; öffentliche Einrichtungen und Kulturbesitz, wie z. B. den Ausfall von öffentlichen Diens­ten, Tele­kommu­ni­ka­tions­zentren oder Museen
  • Gewerbe- oder Industrieaktivitäten, wie z. B. auf Hotels, Banken, Industriebetriebe, Gewerbemärkte, landwirtschaftliche Betriebe
    Ansammlungen von Personen, z. B. in großen Gebäuden, Büros, Schulen
  • Einzelpersonen, z. B. in Wohngebäuden und kleinen Büros, wenn in diesen Gebäuden Betriebsmittel der Überspannungskategorie I oder II errichtet sind.

Tabelle: Geforderte Bemessungs-Stoßspannung von Betriebsmitteln

Da heutzutage davon auszugehen ist, dass in allen Gebäuden grundsätzlich Betriebsmittel der Überspannungskategorie I oder II an die feste Installation angeschlossen werden, ist der Überspannungsschutz praktisch in allen Gebäuden mit elektrischen Anlagen vorzusehen. In der untenstehenden Tabelle ist die geforderte Bemessungs-Stoßspannung von Betriebsmitteln (UW), die an das Niederspannungsnetz angeschlossen werden können, dargestellt. Die Tabelle bezieht sich auf das TT- und TN-System in üblichen Netzen der Versorgungsnetzbetreiber und stellt nicht den gesamten Inhalt der Tabelle 443.2 aus DIN VDE 0100-443 [3] dar. Sie zeigt genaugenommen, welche Stoßspannung die entsprechenden Betriebsmittel mehrfach vertragen können müssen, ohne Schaden zu nehmen. Hierzu werden diese Geräte mit einer Prüf-Stoßspannung beaufschlagt, die oberhalb der Bemessungs-Stoßspannung liegt. Der Kurvenverlauf der Prüf-Stoßspannung entspricht einem 1,2/50 µs-Impuls.

Die oben genannte Norm gilt zunächst nicht in Anlagen mit Explosionsrisiko oder baulichen Anlagen, bei denen im Schadensfall Auswirkungen auf die Umwelt auftreten können, wie z. B. chemische oder radioaktive Emissionen. Das bedeutet aber nicht, dass in diesen Anlagen grundsätzlich auf den Überspannungsschutz verzichtet werden kann. Hierzu kann – bezogen auf den Explosionsschutz – unter anderem auf die DIN EN 60079-14 (VDE 0165-1) [5] und die TRGS 723 [6] sowie die Blitzschutznormen nach DIN EN 62305 (VDE 0185-305) [7][8] verwiesen werden.

Einsatz von Überspannungs-Schutzeinrichtungen (SPDs)

Der Schutz bei transienten Überspannungen soll durch die Errichtung von Überspannungs-Schutzeinrichtungen (SPDs) erreicht werden. Die Abkürzung SPD steht für Surge Protective Device. Die Auswahl und Errichtung von SPDs muss entsprechend DIN VDE 0100-534 [4] erfolgen. Ist die Errichtung von SPDs in der Niederspannungsanlage erforderlich, dann wird die Errichtung von zusätzlichen SPDs auch für andere Systeme, wie zum Beispiel Telekommunikationsleitungen, empfohlen.

SPDs müssen so nah wie möglich am Speisepunkt der elektrischen Anlage errichtet werden. Zum Schutz bei indirekten Blitzeinwirkungen und bei Schaltüberspannungen müssen mindestens Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 2 errichtet werden. Abweichend davon sind in Deutschland, in baulichen Anlagen mit Freileitungseinspeisung, SPDs des Typs 1 zu errichten. Zudem gilt für bauliche Anlagen, die mit einem externen Blitzschutzsystem ausgerüstet sind, dass SPDs des Typs 1 verwendet werden müssen.

Der Unterschied zwischen den Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 1 und des Typs 2 liegen im Wesentlichen im Ableitvermögen der Schutzgeräte. So müssen Typ-1-Ableiter Blitzströme tragen und damit eine sehr viel höhere Energie als Typ-2-SPDs ableiten können. Aus diesem Grund werden die Überspannungsschutz-Einrichtungen im Labor mit unterschiedlichen Stoßstrom-Parametern geprüft. Bei fast allen Herstellern sind die unterschiedlichen Ableitvermögen direkt auf dem Schutzgerät (Aufdruck), mindestens aber im Datenblatt, zu erkennen. Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 1 werden mit Stoßströmen der Kurvenform 10/350 und SPDs des Typs 2 mit Stoßströmen der Kurvenform 8/20 geprüft. Die erste Zahl der Bezeichnung gibt an, in welcher Zeit (in µs) 90 % des Scheitelwerts des Stroms erreicht werden. Die zweite Ziffer gibt an, in welcher Zeit (in µs) der Strom auf 50 % des Scheitelwerts abgeklungen ist.

In der Praxis setzen sich immer häufiger Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 1/2 durch. Diese Schutzeinrichtungen gewährleisten u. a. das je nach Blitzschutzklasse geforderte Blitzstromableitvermögen und reduzieren die Überspannung (je nach Hersteller und Ausführung) auf Werte unterhalb von 1,5 kV bis 2,5 kV.

Wenn in elektrischen Anlagen SPDs eingesetzt werden und es gewünscht ist, Schutzeinrichtungen unterschiedlicher Hersteller zum Einsatz zu bringen, ist vorab zu klären, ob die ausgewählten Schutzeinrichtungen miteinander kombiniert werden dürfen. Dies können nur die Hersteller der jeweiligen Überspannungs-Schutzeinrichtungen verbindlich beurteilen.

Blitzschutz nach DIN EN 62305 (VDE 0185-305)

In der Blitzschutznormung wird prinzipiell zwischen zwei Gruppen des Blitzschutzes unterschieden. Diese werden in den Blitzschutznormen DIN EN 62305-3 (VDE 0185-305-3) Blitzschutz – Teil 3: Schutz von baulichen Anlagen und Personen [7] und DIN EN 62305-4 (VDE 0185-305-4) Blitzschutz – Teil 4: Elektrische und elektronische Systeme [8] in baulichen Anlagen, beschrieben.

Blitzschutz nach DIN EN 62305-3 (VDE 0185-305-3)

Ziel des Blitzschutzes nach Teil 3 der Blitzschutznormen ist es, bauliche Anlagen gegen materielle Schäden und Personen in baulichen Anlagen vor Lebensgefahr infolge von direkten Blitzeinschlägen durch ein Blitzschutzsystem (LPS = Lightning Protection System) zu schützen. Ein solches Blitzschutzsystem besteht aus dem äußeren Blitzschutz (Fangeinrichtung, Ableitungen, Erdungsanlage) und aus dem inneren Blitzschutz (Blitzschutzpotentialausgleich, Einhaltung von Trennungsabständen). Die Kennwerte des Blitzschutzsystems werden durch seine Blitzschutzklasse festgelegt. In der Norm werden vier Blitzschutzklassen beschrieben. Die Wirksamkeit des Blitzschutzes nimmt von der Blitzschutzklasse IV zur Blitzschutz­klasse I zu, wobei die Blitzschutzklasse IV in Deutschland nicht errichtet werden soll, da diese Blitzschutzklasse eine Verschlechterung der Anforderung an einen äußeren Blitzschutz im Vergleich zu den Vorgängernormen darstellt.

Zum inneren Blitzschutz gehört der Blitzschutzpotentialausgleich, der für energietechnische und informationstechnische Anlagen durch Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 1 erreicht werden soll. Die Blitzstromtragfähigkeit der SPD des Typs 1 oder auch des Typs 1/2 (siehe oben) für die energietechnische Einspeisung, hängt von der gewählten Blitzschutzklasse ab. So muss eine SPD des Typs 1 für Blitzschutzsysteme der Blitzschutzklasse III ein Ableitvermögen von mindestens 50 kA (10/350), für die Blitzschutzklasse II 75 kA (10/350) und für die Blitzschutzklasse 100 kA (10/350) aufweisen. Der weitere Schutz der elektrischen und informationstechnischen Anlage wird durch zusätzliche Überspannungsschutzmaßnahmen – z. B. durch SPDs des Typs 2 – dringend empfohlen. Der äußere Blitzschutz wird u. a. durch Fangeinrichtungen erreicht, die je nach Blitzschutzklasse entsprechend errichtet werden müssen. Eine Raumschirmung wird durch dieses System nicht erreicht.

Blitzschutz nach DIN EN 62305-4 (VDE 0185-305-4)

Ziel des Blitzschutzes nach Teil 4 der Blitzschutznormen ist es, bauliche Anlagen mit elektrischen und elektronischen Systemen gegen die Wirkungen des elektromagnetischen Blitzimpulses (LEMP) durch Schutzmaßnahmen gegen LEMP zu schützen. Es wird ein sogenanntes SPM-System (SPM = Surge Protection Measures) errichtet. Diese Maßnahmen beinhalten eine individuelle Kombination aus Erdung und Potentialausgleich, räumliche Schirmung, Leitungsführung und -schirmung. Zudem wird ein koordiniertes SPD-System (SPD = Surge Protective Device) gefordert. Die Kennwerte der Schutzmaßnahmen müssen dem gewählten Gefährdungspegel (LPL) entsprechen. Die Basis für den Aufbau der SPM ist das Blitzschutzzonen-Konzept.

Damit muss das System Blitzströme tragen können und einen umfassenden Überspannungsschutz gewährleisten. In bestimmten festgelegten Blitzschutzzonen muss eine Schwächung des elektromagnetischen Feldes beispielsweise durch Gebäude- und Raumschirmung sichergestellt werden. Typische Anwendungsfälle solcher Systeme sind z. B. Rechenzentren.

Zusammenfassung

Die Unterschiede der Ausführung des Überspannungsschutzes begründen sich mit den Anforderungen an das Gebäude und damit auch an die elektrische Anlage. Es ist also ein genaues Schutzziel zu definieren. Dieses Schutzziel ist dem Errichter der Anlage mitzuteilen.
Für Gebäude ohne äußeren Blitzschutz reicht ein Überspannungsschutz nach DIN VDE 0100-443 [3] aus. Die Forderung des Überspannungsschutzes ist zum Beispiel in der AR-N 4100 [1] enthalten. Es sind mindestens SPDs des Typs 2 einzusetzen (Abweichungen siehe oben). Das Schutzziel ist der Schutz der elektrischen Anlage und die Vermeidung von Bränden, die durch Überspannungen (zum Beispiel Durchschläge in Leitungen oder elektrischen Geräten) hervorgerufen werden können. Bei dem Einsatz von Überspannungs-Schutzeinrichtungen im Vorzählerbereich sind SPDs des Typs 1 auf Grund der Technologie (Funkenstreckenbasis) erforderlich.

Kombinationen des Typs 1 und 2 in einer Schutzeinrichtung sind erlaubt. Weitere Überspannungsmaßnahmen (zum Beispiel der Einsatz von weiteren SPDs des Typs 2 und 3) werden empfohlen.

In Gebäuden mit äußerem Blitzschutz (DIN EN 62305-3) [7] sind Überspannungs-Schutzeinrichtungen des Typs 1 zwingend vorgeschrieben. Das Blitzstromableitvermögen ist nach der Blitzschutzklasse zu wählen (mindestens 50 kA 10/350). Kombinationen des Typs 1 und 2 in einer Schutzeinrichtung sind erlaubt. Das Schutzziel ist es, bauliche Anlagen gegen materielle Schäden und Personen in baulichen Anlagen vor Lebensgefahr infolge von direkten Blitzeinschlägen durch ein Blitzschutzsystem zu schützen. Zusätzliche Überspannungsmaßnahmen (zum Beispiel der Einsatz von weiteren SPDs des Typs 2 und 3) werden dringend empfohlen.

In Gebäuden mit Blitzschutzsystemen nach DIN EN 62305-4 [8], müssen die Anforderungen des Blitz- und Überspannungsschutzes vollumfänglich umgesetzt werden. Zudem können für bestimmte Bereiche Schirmungsmaßnahmen gefordert werden. Das Schutzziel ist es, die bauliche Anlage mit elektrischen und elektronischen Systemen gegen die Wirkungen des elektromagnetischen Blitzimpulses (LEMP) durch Schutzmaßnahmen gegen LEMP zu schützen.

Fazit

Zwischen dem Überspannungsschutz nach DIN VDE 0100-443 [3] und dem Überspannungsschutz, der sich aus den Forderungen der DIN EN 62305 [7] [8] ergeben könnte, entstehen unter Umständen erhebliche Unterschiede. Diese müssen vom Planer und Errichter der Anlage frühzeitig erkannt und schon in der Planungsphase berücksichtigt werden.

Literaturverzeichnis

  • [1] VDE AR-N 4100: 2019-04 »Technische Regeln für den Anschluss von Kundenanlagen an das Niederspannungsnetz und deren Betrieb (TAR Niederspannung)«
  • [2] DIN 18015-1:2020-05 »Elektrische Anlagen in Wohngebäuden – Teil 1: Planungsgrundlagen«
  • [3] DIN VDE 0100-443: 2016-10 – Errichten von Niederspannungsanlagen – Abschnitt 4-43: Schutz bei transienten Überspannungen infolge atmosphärischer Einflüsse oder von Schalthandlungen
  • [4] DIN VDE 0100-534 (VDE 0100-534): 2016-10 – Errichten von Niederspannungsanlagen – Teil 5-53: Auswahl und Errichtung elektrischer Betriebsmittel – Trennen, Schalten und Steuern Abschnitt 534: Überspannungs-Schutzeinrichtungen (SPDs)
  • [5] DIN EN 60079-14 (VDE 0165-1): 2014-10 – Explosionsgefährdete
    Bereiche – Teil 14: Projektierung, Auswahl und Errichtung elektrischer Anlagen
  • [6] TRGS 723: 2019-07-02 – Technische Regeln für Gefahrstoffe – Gefährliche explosionsfähige Gemische – Vermeidung der Entzündung gefährlicher explosionsfähiger Gemische
  • [7] DIN EN 62305-3 (VDE 0185-305-3): 2011-10 – Blitzschutz – Teil 3: Schutz von baulichen Anlagen und Personen
  • [8] DIN EN 62305-4 (VDE 0185-305-4): 2011-10 – Blitzschutz – Teil 4: Elek­trische und elektronische Systeme in baulichen Anlagen.

Autor

Reinhard Soboll, Bereichsleiter, BFE Oldenburg

Quelle und Bildquelle: www.elektro.net